Die Fremdwahrnehmung als Schritt zur Förderung der Resilienz (Widerstandskraft) in unserem Gegenüber
15.02.2020, Brunnen SZ
Im dritten Teil der Serie über Resilienz, wie man sie in unserem Gegenüber fördern kann, möchte ich meine Gedanken mit allen teilen, nicht nur mit den Führungspersonen. Wieso?
Habt ihr schon mal eine akute Stresssituation oder Veränderungsphase erlebt und jemandem der in dieser Situation total überreagiert hat? Oder dass jemand sich in einer solchen Situation “versteckt” hat, oder wie eingefroren wirkte? Oder habt Ihr schon mal die Wahrnehmung gehabt, dass jemand seine Gefühle oder Gedanken vor euch verschleiert/versteckt?
Uns allen ist es schon mal passiert zu bemerken, dass Menschen in bestimmten Momenten merkwürdig reagieren. Wir beobachten etwas Sonderbares in der Körperhaltung, in der Gesichtsmimik, in den Gesten, oder in der Stimmlage. Auch wir verhalten uns hin und wieder unbewusst merkwürdig in den Augen anderer.
Häufig nehmen wir uns nicht genügend Zeit, um einen anderen Menschen zu erfassen/wahrzunehmen. Oft folgt unsererseits sofort eine Reaktion auf eine Aktion des Gegenübers. Das ist menschlich und passiert uns allen. Wer aber eine gewisse Verantwortung für sein Gegenüber trägt (als Elternteil, Lehrer, Freund, Partner, Kollege, Führungskraft usw.), wird mit der Zeit an die Stress-Situation und an die Aktion-Reaktion wieder denken und stellt sich selbst womöglich Fragen folgender Art:
- Warum hat die andere Person so reagiert?
- Warum berührt mich ihr Verhalten?
- Wie kann ich gemeinsam mit dieser Person diese stressige Zeit oder diese Veränderung erfolgreich meistern?
Et voila, hier kommt genau die konstante Synchronisierung zwischen Eigen-und Fremdwahrnehmung ins Spiel. Über die Eigenwahrnehmung habe ich bereits im zweiten Teil dieser Serie geschrieben. Schauen wir uns nun die Fremdwahrnehmung an und wie man sie mit der Eigenwahrnehmung verifizieren kann.
Carl Ransom Rogers, bekannter klinischer Psychologe, hat die Hypothese aufgestellt, dass der Mensch in seinem Kern “gut” ist, ergo dass in ihm ein konstantes konstruktives Bestreben seine intrinsischen Möglichkeiten (Potentiale) zu verwirklichen besteht. Mit anderen Worten: eine natürliche Wachstumstendenz. Vorausgesetzt, dass keine wachtsumslimitierenden externen Faktoren vorhanden sind. Anhand dieser Hypothese kann man in vielen Fälle anfangen, den anderen wahrzunehmen. Bis zum gegenteiligen Nachweis sollten wir davon ausgehen, dass es einen “guten Kern” im Gegenüber gibt.
Wir alle haben die Fähigkeit, wenn auch in verschiedenem Ausmasse, bewusst oder unbewusst die Emotionen anderer zu lesen. Wir nehmen wahr wer traurig ist, wer wütend ist, wer Freude empfindet.
Manchmal nehmen wir auch eine “Maske” im Gegenüber wahr. Das, was die Person tatsächlich emotional berührt, versucht sie geschickt zu verstecken mit anderen Emotionen/Reaktionen. Meist nehmen wir sie dann als irgendwie “inkongruent” wahr. In der nachstehenden Abbildung möchte ich zuerst einige Fragestellungen einführen, die jeder für sich, und Führungskräfte speziell, sich stellen können, wenn sie eine schwierige Situation mit einem Gegenüber/Mitarbeiter erleben. Wie ihr bemerkt, handelt es sich um Fragen zu der physischen Wahrnehmung einer Person, zur kulturellen Wahrnehmung, zur Wahrnehmung eine Person in einem System und zur biographischen Wahrnehmung eines Individuums. Denkt kurz an eine Person, mit der ihr schwierige Gespräche in einem stressigen Arbeitskontext geführt habt…. Wie viele dieser Fragen habt ihr euch gestellt? Wie viele Antworten habt ihr erhalten?
Denkt jetzt an eine Person in eurem privaten Kontext hingegen, während einer nicht leicht zu bewältigenden Stresssituation. Wie viele Fragen habt ihr euch da gestellt? Und wie viele Antworten habt ihr erhalten?
Abb. 1: Mögliche Fragestellungen zu der Fremdwahrnehmung und der Eigenwahrnehmung in Bezug auf dem Gegenüber. Aus der Masterarbeit C. Wyler (2018).
Nicht jeder ist gleich, aber ich denke, eine Tendenz besteht häufig, dass man im privaten Kontext grosszügiger mit der Wahrnehmung und dem Reflektieren über eine Person umgeht, als im Arbeitskontext. Dies, weil unsere Beziehung zu einer Person im privaten Kontext gleichzeitig eine wichtige Ressource und eine Gefahr für unseren emotionalen Kern darstellt. Unser Vertrauen in diese Person, die gezeigte Verletzlichkeit, ist wesentlich grösser, als im Arbeitskontext: wir riskieren mehr zu verlieren, aber auch mehr zu gewinnen.
Nichtsdestotrotz sind auch Arbeitskollegen, Mitarbeiter, Vorgesetzte menschliche Wesen. Die emotionale Distanz ist somit nur relativ vorhanden und diese Menschen können einen grossen Einfluss auf unsere persönliche Entwicklung haben. Warum also sich nicht die Zeit nehmen, um die Reaktionen des Gegenübers zu verstehen? Und wie kann man gemeinsam aus stressigen Situationen resilienter hervorgehen?
Wir vergessen oft den anderen Menschen, seine Reaktionen und unsere Beziehung zu ihm aus verschiedenen Blinkwinkeln zu begutachten. Wenn wir jedoch von Rogers Hypothese ausgehen, dass jeder Mensch die Entfaltung seines Potentials anstrebt, warum verhält sich dann diese Person auf eine bestimmte Weise, die eventuell sogar kontraproduktiv für sie ist?
Die Körper- und Mimikwahrnehmung des Gegenübers ist nur der erste Schritt, um das Verhalten des Gegenübers zu verstehen. Die physische Wahrnehmung suggeriert uns zwar, was die Person gerade physisch und emotional durchlebt… aber sie verrät uns kaum etwas über das wieso und warum. Sie sagt nichts aus über die kulturellen Hintergründe einer Person, über ihre Werte. Sie sagt nichts aus über die systemischen Verflechtungen dieser Person mit einer bestimmten Gruppe, oder über die Lebenserfahrungen, die sie geprägt haben. Und genau hier beginnt die Arbeit: die empathische Suche, gekoppelt mit sozialer Sensibilität. Vielleicht habt ihr schon mal die TV Serie “Lie to me” gesehen. Es ist eine Serie, die auf der Geschichte eines Wissenschaftlers basiert, der fähig ist, Mikro-Mimik Ausdrücke in den Gesichtern der Menschen zu lesen und somit Lügen aufzuspüren. Wie kann er tatsächlich die Wahrheit rausfinden?
Es ist nicht nur seine Beobachtungsgabe, die ihm dabei hilft, sondern auch seine Fähigkeit, durch gekonntes Fragen, die Persönlichkeit des Menschen zu erfassen. Der einzige Haken? Man muss auch gut auf seine Eigenwahrnehmung achten, um die Fremdwahrnehmung auf ihre Gültigkeit zu prüfen. Welche Muster und Erfahrungen von mir selber beeinflussen mich in meiner Fremdwahrnehmung?
Die eigene Selbstwahrnehmung zu verifizieren ist ein sehr wichtiger Schritt. Es können nämlich sehr starke Resonanz- oder Dissonanz-Effekte auftreten, die die Fremdwahrnehmung eines Gegenübers beeinträchtigen. Auf diese Effekte werde ich spezifischer im letzten Teil meiner Serie eingehen. Um zu verstehen, ob unsere Wahrnehmung des Gegenübers teilweise der Realität entspricht, muss man definitiv auch sich selber beobachten. Was rufen bestimmte Reaktionen meines Gegenübers in mir hervor? Warum kann ich ein bestimmtes Verhalten von ihm nicht ausstehen? Sind meine Werte, meine Erfahrungen, meine Muster entgegengesetzt zu seinen? Oder sind wir uns zu ähnlich? Kann ich andere Meinungen im Raum stehen lassen? Und immer davon ausgehen… der Mensch versucht normalerweise seinen persönlichen Wachstumswunsch im Guten nachzugehen.
Lasst uns ein konkretes Beispiel machen. Eine Person reagiert auf konstruktive Kritik, in dem sie sich allem verschliesst. Ihr nehmt wahr, dass sie sich kaum bewegt, dass sie eingesackt vor euch sitzt, ihre Mimik ist starr oder untröstlich. Wie würdet ihr darüber denken? Vielleicht würdet ihr versuchen, mit Taktgefühl und “non violent communication” eure Beobachtungen ihr mitzuteilen und sie empathisch fragen, ob etwas nicht in Ordnung sei. Die Person verschliesst sich aber nun noch mehr und ihr gebt den Dialog auf. Vielleicht seid ihr jetzt sogar etwas genervt, dass die Person mit konstruktiver Kritik nicht umgehen kann…
Jetzt versucht, euren Blickwinkel zu erweitern… oder besser formuliert, versucht den Gedanken von Rogers in diese Situation zu integrieren…
Wenn es wahr ist, dass die Person nach persönlichem Wachstum strebt… warum verschliesst sie sich? Ihr Verhalten muss eine logische Erklärung haben. Vielleicht schützt sie dieses Verhalten aus irgendeinem Grund vor “Schlimmerem”, vor “Gefahren” und das unbewusst. Was könnte die Gefahr sein? Schmerz, Unsicherheit, sich nicht genügend zu fühlen, Angst alles zu verlieren usw.…
Woher könnte das seinen Ursprung haben? Aus kulturellen Erfahrungen? Welche Kulturen haben diese Person geprägt (ethnisch, familiär, arbeitsmässig usw.)? Welche autobiografischen Lebenserfahrungen kennzeichnen diese Person (Mobbing, schwierige Familienverhältnisse, Isolations-Erfahrungen, Verluste, usw.)? Welche Situation erlebt sie gerade mit euch und anderen korrelierenden Personen (fühlt sie sich euch gegenüber loyal, bewundert sie euch, bestehen Machtasymmetrien wie Alter, Bildung und vieles mehr)?
Wahrscheinlich würden eure Intuition und einige Überlegungen euch etwas vermuten lassen. Vielleicht würdet ihr in einem geeigneten Moment die Person darauf empathisch ansprechen, um einige Antworten zur Bestätigung eurer Vermutung zu erhalten… Aber das reicht nicht. Auch wenn ihr mit der Zeit das Vertrauen dieser Person gewinnen könnt und so einige Antworten von ihr geschenkt bekommt, so bleiben folgende Fragen offen: Welche Reaktionen und Empfindungen gehören zu ihr und welche zu mir? Welchen Effekt hat ihr Verhalten auf mich? Wieso? Wenn ihr das alles auseinandersezieren könnt, dann erst könnt ihr davon ausgehen, dass eure Wahrnehmung des Gegenübers ziemlich zuverlässig ist.
Vorausgesetzt unsere Wahrnehmung des Gegenübers ist mehr oder weniger zuverlässig, wie können wir die Resilienz im anderen fördern?
Indem wir ihm Unterstützung anbieten, aber nicht für ihn entscheiden. Wir zwingen ihn nicht etwas zu tun, wenn er nicht dazu bereit ist! Zu viel Druck könnte durchaus der Beziehung schaden und das Vertrauen annullieren, dass sich bis dato zwischen euch und der Person etabliert hat.
Alle unsere Schutzmechanismen, unsere merkwürdigsten Reaktionen, haben einen guten Grund zu existieren. Sie haben uns in der Vergangenheit geholfen Krisensituationen zu meistern. Wenn die Person von sich aus nicht das Bedürfnis verspürt, etwas an sich zu verändern, dann könnt Ihr nur eure Beobachtungen anbieten, ihr Unterstützung geben, aber schlussendlich muss die Person selber entscheiden, was sie machen möchte.
Vielleicht ist sie zu dem Zeitpunkt noch nicht bereit, oder braucht eine stabilere Bindung zu euch, oder vielleicht eine andere Vertrauensperson, die sie auf ihrem Weg begleitet. Dies bedeutet aber nicht, dass sie keinen “guten Kern” hat, oder dass es nicht wert ist, in eine Beziehung mit ihr zu investieren.
Für euch heisst das wiederum aber auch nicht, dass ihr in jedem Fall für diese Person ständig in Wartehaltung sein müsst. Wenn sie eure persönlichen Grenzen weitgehend überschreitet, oder wenn gemeinsame Ziele z.B. sehr stark durch ihr Verhalten gefährdet sind, dann habt ihr auch die Pflicht, für euch zu schauen (aber im Versuch natürlich die Grenzen des anderen möglichst zu respektieren). Kompromisse, Modus Operandi oder ein Konsensus, wie weiter gemeinsam, können dann geeignete erste praktische Schritte sein, die man mit ihr einleiten kann.
Zusammenfassend:
- Die Fremdwahrnehmung hat sehr viele Facetten (physisch, kulturell, systemisch, biographisch usw.)
- Die Fremdwahrnehmung muss immer synchronisiert sein mit der Eigenwahrnehmung, damit sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zutrifft und möglichst fehlerarm ist.
- Um ein vielleicht nicht erklärbares oder unkonstruktives Verhalten zu verstehen, geht von der Hypothese von Rogers aus, dass jeder Mensch nach persönlichem Wachstum strebt und somit einen “guten Kern” besitzt.
- Euren Wunsch der Person in ihrem Veränderungsprozess zu helfen ihr bitte nicht aufdrängen, sondern lediglich beobachten, Unterstützung anbieten und den freien Entscheid, sowie das Tempo des anderen respektieren.
- Wenn die Person im Moment keinen Veränderungsbedarf verspürt, ergo z. B. ihre Verhaltensmuster zu erweitern ihr nicht wichtig ist, wird es dafür sicher einen guten Grund geben. Bitte nicht persönlich nehmen, ihren Entscheid respektieren und empathisch einfach zuhören.
- Wenn man seine eigenen persönlichen Grenzen schützen muss, oder ein gefährdetes gemeinsames Ziel nicht verhandelbar ist, warnt die Person vor, dass ihr das so nicht akzeptieren könnt und versucht, eine gemeinsame Lösung zu finden, in Form eines gemeinsamen Modus Operandi oder eines Konsens.
- Wenn die Person selber sich von ihren eigenen Verhaltensmustern eingeengt fühlt und ihre Reaktionsbandbreite erweitern möchte und wenn sie sich entscheidet, euch als Vertrauenspartner für ihre Eigenreflektion zu nutzen, nur dann, und auch nur dann, hättet ihr die Möglichkeit, sie in ihrer Resilienz-Bandbreite und vielleicht auch in eurer zu fördern.
Wie man die Bandbreite an Resilienz-Mechanismen fördern kann, wie man sicher sein kann die Synchronisierung zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung gut durchgeführt zu haben und wie man gemeinsam wachsen kann, dazu mehr in meinem nächsten Beitrag.
Herzlich Eure Corina
Referenzen:
Wyler, Corina (2018). Mitarbeiter-Resilienz-Coachings von 3 Führungskräften in Schweizer Unternehmen: Analyse einer Ist-Situation und weiterführende Interventionsvorschläge eines externen Coaches. MAS Systemisches Coaching und Organisationsberatung. Institut für Kommunikation und Führung, Luzern. Arbeit ist nicht einsehbar aus Vertraulichkeitsgründen.
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