Die Wertschätzung: ein Geschenk oder eine Erwartung an uns?
28.10.2019, Brunnen SZ
Gedanken zu Euren Kommentaren zum vorherigen Blog-Beitrag.
Einige von Euch, vor allem einige Freunde, haben sich zum Thema “Wichtigkeit der Wertschätzung anderer” vom letzten Blog-Beitrag gemeldet und geäussert. Dieses Thema scheint vielen Menschen sehr nahe zu gehen und viele von uns freuen sich wertgeschätzt zu werden. Wertschätzung kann jedoch auch als eine Form von Erwartung wahrgenommen werden, egal ob diese Wahrnehmung korrekt ist oder nicht. Sie kann zudem in dem Empfänger Verlegenheit oder ein Gefühl von Versagensangst auslösen. Es scheint, als ob «zu viel» Wertschätzung, oder Wertschätzung, die zu offenkundig gezeigt wurde, fast den entgegengesetzten Effekt hat, von dem was sie bezwecken sollte. Mit anderen Worten, sie kann Versagensangst, Unruhe, Verlegenheit auslösen, anstatt als Ressource zu dienen uns selber noch mehr zu akzeptieren, uns selbst noch mehr zu vertrauen, unseren Selbstwert zu steigern. Häufig wird von vielen Menschen eine “versteckte” Wertschätzung bevorzugt. Es reicht ein «Daumen hoch-Zeichen», ein Blick, uns entgegengebrachte Zeit, oder eine Wertschätzung unter 4 Augen. Wenn ich darüber nachdenke, das passiert mir auch. Sowohl auf der Arbeit (ich fühle mich immer sehr verlegen, wenn man mich vor einer Gruppe lobt), als auch im privaten Kontext (wenn Mitmenschen mich zu sehr wertschätzen für mein gutes Herz). Ich bin jemand mit Licht und Schatten und ich fühle mich unter Druck gesetzt und wie auf ein Podest gestellt, wenn man mich für meine Güte schätzt, denn ich habe Angst, nicht als “Mensch” mit Ecken und Kanten erkannt zu werden und so auch nicht als wahres Ich geschätzt zu werden. Auf der Arbeit, ist es zum einen, der Aspekt, dass ich in einer Familie gross geworden bin, wo man immer zu Bestleistungen angespornt wurde und wo diese Leistung als selbstverständlich betrachtet wurde. Zum anderen war in dieser Familie das “nicht gesehen werden” eine Form von Überlebensstrategie, um unschöne Situationen zu ignorieren. Ich bin es nicht gewohnt, und es bringt mich in Verlegenheit, öffentlich gelobt zu werden, weil es mich zu sehr in das Zentrum der Aufmerksamkeit katapultiert. Ein Teil von mir versucht nach wie vor sich unbewusst “unsichtbar” zu machen, ein anderer jedoch würde gerne gesehen und wertgeschätzt werden, für die die ich bin. Nach wie vor gebe ich mein Bestes um Wertschätzung von anderen zu erfahren. Ein Oxymoron und ein sich ewiges im Kreis drehen zugleich.
Mit der Wertschätzung der anderen zu hadern ist etwas, dass ich bei vielen Menschen sehe… Und ich frage mich, warum dem so ist. Warum können wir in bestimmten Situationen oder von bestimmten Personen Wertschätzung nicht als Geschenk betrachten, sondern sehen es eher als Erwartung, die uns in unseren zukünftigen Handlungen verpflichtet, und uns keinen Spielraum für Fehler erlauben wird? Hat es mit unserem Selbstwert zu tun (und mit unseren persönlichen Erfahrungen)? Hat es damit zu tun wie wir aufgewachsen sind (kulturell, unsere emotionalen Bindungen)? Hat es mit dem Bild von Perfektion unserer heutigen Gesellschaft zu tun (man muss perfekt sein, um Achtung und Wertschätzung zu verdienen)? Oder gibt es tatsächlich Menschen, die anstatt uns “nur” zu schätzen, auch ihre Erwartungen, bewusst oder unbewusst, daran knüpfen?
Ich denke «all» diese Aspekte können unter Umständen eine Rolle spielen und je nach Fall, können sie einzeln oder vermehrt tatsächlich auftreten. Schon im vorherigen Blog-Beitrag wurde sinniert über die Korrelation zwischen Selbstwert und Wertschätzung, die man von Mitmenschen in der Vergangenheit erfahren hat. Ein Mensch, der negative Erfahrungen gemacht hat, wird sich schwertun wohlwollende schätzende Worte anzunehmen, weil er schlicht und einfach an positives Feedback nicht gewöhnt ist. Schlechte Erfahrungen, ähnlich wie physische Schmerzen, bleiben lebhafter in Erinnerung, als gute. Es braucht viele positive Erfahrungen und Zeit, um die negativen Erfahrungen abzumildern. Seitens der Evolution macht es durchaus Sinn. Unser Gehirn möchte uns vor Gefahren warnen und uns überleben lassen. Also prägt es sich die Momente ein, die uns weh getan haben, damit wir sie in Zukunft vermeiden können.
Ein kultureller Faktor kann natürlich auch eine Rolle spielen. Viele Menschen sind in sozialen Gruppen gross geworden, die nach der charakterlichen Perfektion streben, oder wo Leute an harter Arbeit gemessen werden. Dies hat sie natürlich konditioniert. Man denke zum Beispiel, historisch gesehen, am Calvinismus, oder auch an emigrierte Familien. Diese Menschen haben vielleicht Schwierigkeiten Wertschätzungen anzunehmen, weil sie sich noch nicht als “gut genug” für den Kontext, in dem sie leben, empfinden. Auch das gegenteilige Beispiel kann passieren. Menschen, die in harten Umgebungen aufgewachsen sind, sind es vielleicht gewohnt, geachtet zu werden aufgrund ihrer Härte, ihrer Gefährlichkeit, ihrer Fähigkeit jemanden zu verprügeln… Wenn sie sich konfrontiert sehen mit einer Wertschätzungsäusserung, die ihre softe Seite anpreist, die sie in ihrer Vulnerabilität erfasst, so werden sie sie nur mit Mühe akzeptieren können, da sie nicht kongruent ist mit den kulturellen Werten ihrer Umgebung.
Auch eine instabile Bindung zu den Eltern in der Kindheit kann Auswirkungen auf die Person haben und sie im Erwachsenenalter selbstkritischer und misstrauischer gegenüber Vertrauens- und Bindungs-Beweise der Mitmenschen machen. Diese Person wird ihre Verletzlichkeit nicht preisgeben, und wird vielleicht nicht in der Lage sein, eine echte emotionale Bindung einzugehen, obwohl sie sich das oft sehnlichst wünscht.
Unsere Gesellschaft zeigt uns ausserdem in den sozialen Medien, auf der Arbeit oder im Privaten, dass nur der, der perfekt ist, im Sinne von Eigenschaften, Leistung, und im Sinne von Werten, auch wert ist, geachtet zu werden. Das glaubt ihr nicht? Denkt mal drüber nach… Ausser den offensichtlichen Sachen, wie die Kanons der physischen Schönheit, denkt auch an die Werte, an die Eigenschaften und an Leistungen. Es gibt immer eine schwarz-weisse Beurteilung der Gesellschaft, in jedem Jahrhundert. Lediglich die Art der Eigenschaften ändert sich, aber es bleibt eine totalitäre Beurteilung, die alles entweder in schwarz oder weiss, in schlecht oder gut, gliedert. Wer vor einem guten Jahrhundert nicht die perfekte Familie vorlebte, sondern alternative Formen von Beziehungen bevorzugte, hatte es nicht leicht, oder? Wer heutzutage keinen Karriereplan schon im Kopf hat und verfolgt, wird nicht als zielstrebig und erfolgreich angesehen, oder? Es werfe den ersten Stein diejenige Person, die nicht den Druck der Gesellschaft spürt, und gar keine Maske trägt, um sich besser in dieser Gesellschaft zu integrieren… wir alle tun das in irgendeiner Form. Und wir messen uns sogar an den Beurteilungsparametern unserer Gesellschaft. Wir fühlen uns vielleicht nicht schön genug, nicht zielstrebig, nicht normal, nicht lieb genug…usw.
Und es stimmt. Es gibt Menschen, die unter Umständen ihre Wertschätzung bewusst oder unbewusst an eigene Erwartungen knüpfen. Vielleicht auf der Arbeit. Menschen, die unsere Resultate schätzen und die hoffen, dass wir sie bei den gemeinsamen Zielen unterstützen können, in dem wir weiterhin 200% abliefern. Oder im privaten Kontext Menschen, die durch Wertschätzung auf Ressourcen oder Liebe hoffen. Im Paper von Bailey J. (2003, Journal of the National Medical Association), habe ich eine der wenigen Definitionen von Wertschätzung gefunden (eine historische Definition). Das Paper kann ich empfehlen zum Topic, was ist Wertschätzung und Selbstwert.
“To “regard” was to recognize that the person had achievements of value and/or worth; to “respect” was to rank that person on the ladder of importance, based on the person’s recognized achievements; and to “appreciate” was to pleasantly ‘feel” the effects of the ranked achievements-pleasantness that could range anywhere from mere approval to profound gratitude or thankfulness. The combination of regard, respect, and appreciation was called “esteem” and they became its three fundamental components. When a person assessed him/herself by these three factors in qualities, in quantities, and in character related behaviors and work products-the result was one’s self-esteem.”
Diese Passage würde die enge Bindung zwischen Selbstwert und Wertschätzung bestätigen. Vielleicht liefert es sogar die Erklärung, warum von uns Wertschätzung oft als Erwartung der anderen wahrgenommen wird. Nolens oder volens, wir vergleichen uns automatisch mit unseren Mitmenschen, wir vergleichen heutige Erfahrungen und Situationen mit vergangenen, wir messen uns an dem, was wir gelernt haben, was als gut oder schlecht gilt in unserer Kultur, in unserer jetzigen Gesellschaft. Es braucht Mut und Geduld, um die Grauschattierungen um uns und in uns zu akzeptieren und weder unsere Mitmenschen, noch uns in schwarz-weiss zu beurteilen. Ich selber beurteile mich z.B. leider sehr streng und auch manchmal einige Personen in bestimmten Angelegenheiten. Aber… ich mag Menschen sehr, die nicht perfekt sind… die sowohl Licht und Schatten in sich tragen. Vielleicht, weil sie mir menschlicher erscheinen, realer und erreichbarer im Sinne von Bindung. Vielleicht weil sie mir ähnlich sind. Nun, macht dann Wertschätzung überhaupt noch Sinn, wenn wir alle unvollkommen sind? Was für einen Wert hat sie?
Vor einiger Zeit habe ich einen Begriff gehört, der mich zum Nachdenken angeregt hat und den ich schon vergessen. Wabi-Sabi.
https://it.wikipedia.org/wiki/Wabi-sabi
Es ist das Japanische Konzept von Ästhetik der Nicht-Vollkommenheit, der Einfachheit gepaart mit Schönheit.
Einige von Euch kennen es vielleicht in seiner künstlerischen Ausprägung. Gewisse Künstler benutzen zum Beispiel unvollkommene Keramikschalen. Damit meine ich Schalen mit kleinen Sprüngen, die aufgewertet werden, indem sie sie mit Gold-Legierungen kitten. Dadurch erhalten diese Objekte einen ganz besonderen Charme.
Auch im Coaching gibt es eine Übung, die ich gerade letztens wieder einmal von einem bekannten Pantomimen und Coach für Körpersprache hab vorführen sehen. Nehmen wir mal 100 Franken. Wer würde sie nicht gerne haben wollen?… 100 Franken verachtet man nicht, seien wir ehrlich mit uns selber. Nehmen wir nun an, ich werde diese 100 Franken mit Füssen treten und zerknüllen, bis sie furchtbar aussehen, aber noch ganz sind. Jetzt frage ich Euch erneut… Möchtet ihr sie so haben?… Vielleicht antworten einige von Euch nein….
Der Wert ist der gleiche geblieben, trotz der groben Behandlung. Dieses übertragene Bild gilt auch für Menschen.
Unvollkommenheit heisst nicht, dass die Person es nicht wert ist, geschätzt zu werden. Das, was wir an einem Menschen schätzen, speziell wenn zu dieser Person eine emotionale oder spirituelle Bindung besteht und nicht nur eine rein funktionale Beziehung (die einem Zweck und gegenseitigen Bedürfnissen dient), ist die Qualität ihres Wesens , oder die Taten eines bestimmten Moments. Diese bringen uns dann gegenseitig noch näher, ohne dass wir diese Person auf ein Podest stellen. Wir nehmen sehr wohl die Unvollkommenheiten des anderen wahr und trotzdem sind wir fähig, den Menschen in all’ seinen Schattierungen zu schätzen.
In anderen Worten: das Wabi-Sabi Konzept übertragen auf den Menschen. Menschen können ihre “Sprünge” haben, ihre zerbrechlicheren und weniger schönen Seiten, aber sie haben wiederum auch gute Seiten, die sich wie flüssiges Gold im Ganzen einfügen und so das Werk Mensch zu einem Unikat machen, zu einem Kunstwerk, das verdient geachtet zu werden.
Neugierig Eure Gedanken dazu zu kennen, grüsse ich Euch lieb.
Im nächsten Beitrag würde ich mich dann gerne mit dem Thema Selbstwert etwas wissenschaftlicher befassen.
Eure Corina
Referenzen
Bailey, J.A. (2003). The foundation of self-esteem. J Natl Med Assoc. 2003;95:388–393.
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