Auf der Suche nach den „weisen“ Ahnen und warum dieses für Leadership interessant sein kann
18.08.2019, Brunnen SZ
Es kommt für viele Menschen irgendwann der Zeitpunkt im Leben, bei dem man sich die Frage stellt „woher stamme ich?“, „wo sind meine Wurzeln?“, „wem sehe ich am ähnlichsten in meiner Ahnenreihe?“, „warum bin ich, wer ich bin?“. Diese Fragen beschäftigen die Menschheit seit jeher.
Im Volksmund ist auch die Aussage verbreitet „Wir sollten aus unserer Vergangenheit lernen“.
Aber wieso? Wieso macht es Sinn nach den Ahnen zu forschen, was liegt für uns dabei „drin“?
Vor einiger Zeit hat mich mein Cousin, den ich seit fast 30 Jahren nicht mehr gesehen habe, kontaktiert. Er wollte Kontakt zu mir und war auf der Suche nach Erinnerungen an unseren gemeinsamen Opa väterlicherseits. Unser Opa war jemand, den man klassischerweise als liebenswürdigen und gütigen Menschen bezeichnet. Mein Cousin hatte leider nicht das Glück ihn kennenzulernen, da der Opa früh verstorben ist. Aber vom Hörensagen, wusste er, dass der Opa ein guter Mensch war.
In dem gleichen Zeitrahmen wie mein Cousin war ich ebenfalls auf der Suche nach Informationen zu meinen Urgrosseltern mütterlicherseits, weil ich mir erhoffte, positive Ressourcen durch ihre Geschichte zu finden. Warum beschäftigt uns beide die Ahnenforschung?
Wahrscheinlich, weil wir beide unsere Formen von Resilienz früh entwickelt haben und nach positiven/weisen Vorfahren suchen, die uns eine Erklärung liefern, warum wir sind wer wir sind, warum wir im Leben trotz Höhen und Tiefen unseren Weg gehen. Vielleicht möchten wir auch besser verstehen, was andere Ahnen bewegt hat, warum sie Schwierigkeiten hatten und warum gewisse Aspekte auch bei uns zu finden sind.
Viele resiliente Menschen haben das gleiche Bedürfnis wie mein Cousin und ich. Manchmal hat man das Glück, positive, weise Familienmitglieder in der Familie zu finden, oder bei den Ahnen, manchmal aber leider auch nicht (mangelnde Informationen, oder Kenntnis solch einer Person). Welche Art von Unterstützung kann eine reale oder symbolische und weise Figur geben? Und warum ist es wichtig zu wissen, wo man herkommt? Auch in einem Business Kontext und/oder in einer Leadership Position?
Vielleicht kennt ihr ihn bereits den TED Talk „grandmother Jack“:
https://www.ted.com/talks/dixon_chibanda_why_i_train_grandmothers_to_treat_depression/transcript
Dieser Ansatz, um HIV Patienten zu helfen, basierte auf Gesprächstherapien durchgeführt von „Grossmüttern“, die ihre Patienten auf einer Parkbank empfangen. Die Erfolge, im Sinne von verminderten Depressionen, waren erstaunlich. Was haben sie spezielles gemacht? Sie hörten zu… zeigten Empathie und gaben Ratschläge basierend auf ihrem Wissen und ihrer Erfahrung. Seit Urzeiten brauchen wir Menschen die uns zuhören, die uns mit gutem Rat zur Seite stehen, die unsere Emotionen auffangen, die uns als Vorbilder dienen. Wir suchen nach Geborgenheit, nach unseren Leitplanken (Werte), nach Weisheit, die uns für unseren zukünftigen Weg von Nutzen sein können.
In einer immer schnelleren VUCA Welt suchen immer mehr Menschen echte Verbindungen, Empathie, Geborgenheit, Werte und eine Form der Weisheit. Effizienz, Agilität, stetige Veränderung, immer komplexere Aufgaben, Ambiguität, können uns destabilisieren. Wenn hinzu noch eine Familien-Geschichte on top kommt, die durch Höhen und Tiefen gekennzeichnet ist, so ist es schon fast ein Resilienz-Mechanismus, nach weisen Menschen in unserer Ahnenreihe, oder in unserem Umfeld zu suchen. Wenn nicht in der Familie, so können es Lehrer, Freunde, Kollegen sein, die diesen wichtigen Part der weisen Gestalt übernehmen.
Auch wenn man schwierige Verhältnisse in seiner Familie erleben musste, oder die Familie in einem schwierigen Kontext sich befand (Krieg, Emigration usw.), so haben viele Menschen durch ihre eigene Art von Resilienz überlebt und hoffentlich auch ein gutes Leben geführt. Diese resilienten Menschen berichten meistens von starken Werten oder Glauben, die ihnen vermittelt wurden, oder von Vorbildern in der eigenen Familie/Umfeld, oder wiederum von abschreckenden Beispielen in der eigenen Familie, die sie veranlasst haben, ihren eigenen Wertekodex zu überdenken. Manchmal sind es auch eher symbolische Figuren, anstatt weise Menschen. Zum Beispiel kollektiv Vorbilder/Symbolfiguren wie Gandhi, Galileo oder manchmal auch Tiere, zu denen wir einen emotionalen Bezug aufbauen.
Es ist wichtig zu verstehen, woher unsere Werte, Überzeugungen und Verhaltensmuster stammen, sie wertzuschätzen, denn sie waren und sind uns vielleicht immer noch wichtig und dienlich. Manchmal können Werte oder Verhaltensmuster in gewissen Situationen nicht angebracht sein. Speziell als Leader ist die Gradwanderung omnipräsent in einer Art von „in medias res“ zu bleiben und doch authentisch und fassbar. Man wird vielleicht gerade wegen bestimmter Werte und Überzeugungen geschätzt, aber sie können, falls zu stark ausgeprägt, auch sehr hinderlich sein, je nach Kontext.
Es ist somit wichtig für einen Leader zu verstehen, woher seine Werte stammen und autoreflexiv sich zu hinterfragen, in welcher Intensität und wo und wann sie angebracht und nützlich sind. Es bestehen diverse Studien zu diesem Thema. Ich möchte nur einige davon zitieren, die auch bereits im Paper von Tscholaklan L. et al. (2019) erwähnt wurden. Viele Studien haben bereits erforscht, inwieweit Familie, soziales Umfeld, Ausbildung und kultureller Hintergrund einen Leader inspirieren und mit Werten ausrüsten können (House et al., 2002; Shamir et al., 2005; Day et al., 2014; Mumford et al., 2015, Nguyen et al., 2018). Hinzu kommen noch die Studien, die gezeigt haben, dass eventuelle Traumata in der Kindheit, einen Einfluss auf den erwachsenen Leader haben (Danieli, 1998; Kidron, 2004: Philippe et al., 2011; Ogle et al., 2013). Diese Trauma können natürlich entweder positive oder negative Konsequenzen für den Erwachsenen bedeuten (Yehuda et al., 1998; Ogle et al. 2013). Und on top formuliert Tscholaklan L. (2019) auch noch die Hypothese, dass sogar kollektive Trauma (Holocaust oder andere Genozide z.B.) einen Einfluss auf die Werte eines Leaders haben können und dies einige Generationen danach. Warum wahrscheinlich? Weil wir hybride Persönlichkeiten sind. Wir haben nicht eine Kultur (Krämer et al., 2012), sondern sind ein Puzzle aus verschiedenen kulturellen Erfahrungen und somit beinhalten wir auch Werte und Überzeugungen, die uns mitgegeben worden sind durch Rituale, Ereignisse oder familiären Erzählungen.
Je mehr wir über uns und unsere Vergangenheit, bzw. unsere Ahnen wissen, umso mehr können wir die guten Ressourcen schätzen lernen und die hinderlichen Glaubenssätze oder die extremen Ausprägungen unserer Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Werte lernen, situativ zu adaptieren. Das hilft uns auch, wenn wir in einer Leadership Position sind, denn das können wir mit unseren Erkenntnissen:
- Lernen, uns besser selbst zu regulieren
- Uns situativ angepasst verhalten
- Authentisch zu bleiben
- Besser zu verstehen, was in den Mitarbeitern vorgeht. Unser empathisches Ohr durch unsere Erfahrungen zu trainieren.
- Unsere und die Ressourcen der Mitarbeiter zu erkennen und synergistisch einzusetzen in Zeiten der Veränderungen.
Wenn dazu die Präsenz von weisen Personen (zum Beispiel Mentoren, Peers aus anderen Firmen oder Sektoren, Trainer, Berater, Coaches) oder Symbolbildern in der Gegenwart für den Leader gewährleistet ist, so sind das „gute Bedingungen“, um seiner Leadership Funktion in einer VUCA Welt nachzukommen.
Eure Corina
Referenzen
Danieli, Y. (1998). “Assessing trauma across cultures from a multigenerational perspective” in International handbook of multigenerational legacies of trauma. ed. Y. Danieli (New York, NY: Springer Science + Business Media, LLC), 65–89.
Day, D. V., Fleenor, J. W., Atwater, L. E., Sturm, R. E., and McKee, R. A. (2014). Advances in leader and leadership development: a review of 25 years of research and theory. Leadersh. Q. 25, 63–82. doi: 10.1016/j.leaqua.2013.11.004
Kidron, C. A. (2004). Surviving a distant past: a case study of the cultural construction of trauma descendant identity. Ethos 31, 513–544. doi: 10.1525/eth.2003.31.4.513
Krämer, Gesa, Nazarkiewicz, Kirsten (2012). Handbuch Interkulturelles Coaching. Konzepte, Methoden, Kompetenzen kulturreflexiver Begleitung. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG.
House, R., Javidan, M., Hanges, P., and Dorfman, P. (2002). Understanding cultures and implicit leadership theories across the globe: an introduction to project GLOBE. J. World Bus. 37, 3–10. doi: 10.1016/S10909516(01)00069–4
Mumford, M. D., Watts, L. L., and Partlow, P. J. (2015). Leader cognition: approaches and findings. Leadersh. Q. 26, 301–306. doi: 10.1016/j.leaqua.2015.03.005
Nguyen, D. D., Hagendorff, J., and Eshraghi, A. (2018). Does CEO cultural heritage affect performance under competitive pressure? Rev. Financ. Stud. 31, 97–141. doi: 10.1093/rfs/hhx046
Ogle, C. M., Rubin, D. C., and Siegler, I. C. (2013). The impact of the developmental timing of trauma exposure on PTSD symptoms and psychosocial functioning among older adults. Dev. Psychol. 49, 2191–2200. doi: 10.1037/a0031985
Philippe, F. L., Laventure, S., Beaulieu-Pelletier, G., Lecours, S., and Lekes, N. (2011). Ego-resiliency as a mediator between childhood trauma and psychological symptoms. J. Soc. Clin. Psychol. 30, 583–598. doi: 10.1521/jscp.2011.30.6.583
Shamir, B., Dayan-Horesh, H., and Adler, D. (2005). Leading by biography: towards a life-story approach to the study of leadership. Leadership 1, 13–29. doi: 10.1177/1742715005049348
Shamir, B., and Eilam, G. (2005). “What’s your story?” A life-stories approach to authentic leadership development. Leadersh. Q. 16, 395–417. doi: 10.1016/j.leaqua.2005.03.005
Tcholakian LA, Khapova SN, van de Loo E and Lehman R (2019). Collective Traumas and the Development of Leader Values: A Currently Omitted, but Increasingly Urgent, Research Area. Front. Psychol. 10:1009. doi: 10.3389/fpsyg.2019.01009
Yehuda, R., Schmeidler, J., Wainberg, M., Binder-Brynes, K., and Duvdevani, T. (1998). Vulnerability to posttraumatic stress disorder in adult offspring of Holocaust survivors. Am. J. Psychiatr. 155, 1163– 1171. doi: 10.1176/ajp.155.9.1163
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